Feinfühlig, (hoch)sensibel, sensitiv und dennoch  integriert – eine Utopie?

Von Andrea Münsterberg

 

Christofer geht gemeinsam mit seiner Schwester Anna zur Schule. Er ist hoch- sensibel, seine Schwester nicht. Am Schultor lässt sie ihn allein und stürzt sich mitten ins Getümmel. Sie ist glücklich, wenn sie ihre Freundinnen hat und  fühlt sich wohl dort an der Schule. Sie genießt die Geräuschkulisse, die Menschen um sie herum, die Vielfalt. All das vermittelt ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.

 

Für Christofer sieht das ganz anders aus: Als Hochsensibler ist sein gesamter Körper darauf ausgelegt, mehr wahrzunehmen,  als die meisten Kinder um ihn he- rum. Er hört das Lärmen auf dem Schulhof - ein Angriff auf seine Ohren - sein Kör- per verspannt sich. In seiner Nase steigt eine Mischung aus verschiedensten Ge- rüchen auf: muffige Kleidung, Waschmittel, der alte Schnee, vermischt mit dem Geruch vom Minitrecker, der die Wege geräumt hat.

 

Mit einem Blick nimmt er die vielen Gruppen von Kindern auf, nimmt wahr, wer heute mit wem zusammen steht, erspürt deren innere Haltung, automatisch macht er einen Bogen um bestimmte Gruppen. Er sieht den matschigen Schnee, spürt wie dieser unter seinen Füßen knatscht und sieht aus dem Augenwinkel, wie jemand ausrutscht.

 

Sein Blick fällt auf die Jungs aus der 4., die gerade dabei sind, Jan aus der 1. zu ärgern. Er spürt ihre Wut, ihre Aggressivität und sie macht ihm Angst. Er spürt die Angst von Jan, die ihm die Kehle eng werden lässt. Sein Körper verkrampft sich. Alles prägt sich eindrücklich in seine Sinne, die Gesichtsausdrücke, die Schreie, das Gefühl der Angst. es fühlt sich an, als würden die aus der 4. ihn verprügeln. Er fühlt sich ohnmächtig, sein Kopf rast, sucht nach Lösungen für diese Situation. Seine ganze Aufmerksamkeit wird von dieser Szenerie beansprucht, er steht dort wie angewurzelt.

 

Eine plötzliche Berührung an seinem Arm lässt ihn zusammenfahren. Es fällt ihm schwer, seinen Blick von der Szene abzuwenden, die ihm solche Angst bereitet. Maria steht mit einem ganz lieben, freundlichen Ausdruck vor ihm und möchte ihn zu ihrem Geburtstag einladen. Sie mag ihn, denn er ist nicht so grob wie die an- deren Jungs und er weiß immer genau, was sie gerne mag, als könnte er genau in sie reinschauen. Sie liebt es mit ihm zu malen und er kann so wundervoll singen. Ihm kann sie sich anvertrauen, denn er hat Verständnis für ihre Situation und kann sich so gut in sie einfühlen. Sie mag es, wenn er sofort weiß, was andere Men- schen brauchen und er weiß so viel.

 

Heute wirkt Christofer irgendwie abwesend, in sich versteckt. Maria nimmt ihn an der Hand und geht mit ihm ins Schulgebäude, denn sie weiß, was mit Christofer los ist. Es ist mal wieder zu viel für ihn, die Eindrücke haben ihn überfordert. Sie sucht ein ruhiges Plätzchen, hält seine Hand und ist ganz still. Sie weiß, dass genau das Christofer hilft.

Dann bringt sie ihn zu seiner Klassenlehrerin Frau Schulz. Sie kennt sich aus mit Hochsensibilität und gewährt Christofer einen Moment Ruhe in einem speziell für ihn und andere Hochsensible eingerichteten Ruheraum. Dieser ist frei von äußeren Reizen und gewährt  ihm die Ruhe, die er benötigt, um in solchen Momenten all das Erlebte zu verarbeiten. Außerdem weiß sie, dass er danach wieder umso leistungsfähiger ist.

 

Christofers Schule hat sich auf hochsensible Kinder eingestellt. Hier lernen die Kinder in Lerngruppen zu bestimmten Themen, oder sie können auch allein lernen, ganz wie es ihnen entspricht. Sie wissen, welche Aufgaben sie in einem bestimm- ten Zeitrahmen bewältigt haben sollten. Die Schulumgebung wurde ruhig gestaltet, mit vielen grünen Plätzen und vor allem Rückzugsmöglichkeiten. Erwachsene hal- ten den Rahmen so ruhig, entspannt und freundlich, wie möglich. An dieser Schule unterrichten Lehrer, deren großer Wunsch es ist, jedes Kind in seiner Individualität  zu verstehen.

 

Mit den Kindern wurde ausführlich über verschiedene Charaktere und deren Vor – und Nachteile gesprochen. An dieser Schule wird ein besonderer Fokus darauf ge- richtet, dass jedes Kind verschieden ist und genau das auch erwünscht ist. Kinder, die aus der Reihe tanzen, werden nicht aufgrund ihrer Defizite betrachtet, sondern in ihrer Individualität gefördert und unterstützt: Es wird geschaut, was sie benötigen, um sich selbst wertzuschätzen, sich im sozialen Raum wohlzufühlen und auf das Wesentliche im Schulalltag konzentrieren zu können

 

Könnte so eine „Schule der Zukunft“ aussehen, in der hochsensible Kinder ihr Potential entfalten können?

 


Absolut sehenswert